Die besten Fonts 2011

von Christoph Koeberlin

Neues Jahr – neue Schriften. Und zuletzt hieß das auch: Neues Jahr – immer mehr Schriften! Umso wichtiger, einen unabhängigen Überblick über die besten unter den vielen zu bekommen, und Typefacts leistet dies gewohnt leidenschaftlich, unsortiert und garantiert streng subjektiv.
Viel Spaß also mit der Ur-Helvetica, der Schrift mit den 28 A-Varianten, der Schrift, die unter zwei Namen veröffenticht wurde und sieben weiteren …

Genath · François Rappo (Optimo)

In einem ertragreichen Jahr wie 2011 ist es oft ein Foto-Finish, welche Schrift in meine Bestenliste rutscht und welche dafür draußen bleiben muss. Allerdings gibt es auch Schriften, bei denen überhaupt kein Zweifel besteht, und so eine ist Genath.
Schon seit 2007 hat François Rappo sie in verschiedenen Vorab-Versionen zum Einsatz gebracht, und wer die Documents-Buchserie von JRP|Ringier gesehen hat, weiß, dass es nichts weiter braucht als diese Schrift in großen schwarzen Lettern auf weißem Grund, um in Verzückung zu geraten. Genath ist eine lose Interpretation einer Type von Johann Wilhelm Haas für die Basler Genath-Gießerei. Den barocken Geist des 18. Jahrhunderts hat sie ebenso wie die Schriften ihres berühmten Zeitgenossen Fleischmann in Nürnberg eingeatmet. Schmal gehalten mit verspielten Details bewegt sie sich im Dunstkreis der Fleischmann-Interpretationen; Was jedoch den entscheidenden Unterschied ausmacht, ist der konsequent vergrößerte Kontrast, der im Zusammenspiel mit dem Detailreichtum andere barocke Typen plump und klassizistische Schriften tiefgekühlt wirken lässt.

Realist · Martin Wenzel (MartinPlusFonts)

Wer (wie ich) Martin Wenzels unterschätzte FF Profile liebt, aber merkt, daß ihre Anmutung für manche Anwendungen zu organisch und warm ist, wird (wie ich) hellauf begeistert sein, nun ihre seriösere Schwester kennenzulernen. Mehr dazu von mir auf Typographica!

Bookmania · (Mark Simonson Studio)

Es gibt nicht wenige, die auf ein Revival einer Schrift verzichten könnten, die schon immer »hässlich und unnötig« (E. Spiekermann) war. Auch ich gehörte dazu, bis mich Mark Simonson eines Besseren belehrte: Seine Liebeserklärung an Ed Benguiats stilprägende Fotosatz-Bookman der 60er Jahre ist derart konsequent maßlos geraten (alleine 28 [!] A-Varianten, erstmalig Kapitälchen und Mediävalziffern etc pp), daß Glyphpaletten-Spielkinder ihre helle Freude haben und die Nase nur noch über phantasielose Verwendung rümpfen.

Nouvelle Vague · Elena Albertoni (Anatoletype)

Im Gegensatz zu Bookmania kommen Glyphpaletten-Spielkinder bei Nouvelle Vague nicht auf ihre Kosten. Müssen sie aber auch nicht! Elena Albertonis Ansatz war ein ganz anderer: Als Bewundererin von Excoffons Mistral, die schon so lange auch ohne komplexe OpenType-Features funktioniert, verneigt sie sich vor dieser und tut es ihr gleich, indem sie nur für wenige unvorteilhafte Kombinationen lindernde Ligaturen bereithält. So wird aus französischen Wurzeln und italienischer Feder auf deutschem Boden eine funktionierende paneuropäische Schreibschrift.

FF Ernestine · Nina Stössinger (FontFont)

Die sympathische Deutsch-Schweizerin Nina Stössinger hat bei ihrem drei Jahre währenden Erstlingswerk die Typografie-Community von Anfang an am Entstehungsprozess teilhaben lassen, und so war die Freude über das Erscheinen nicht nur bei ihr selbst sehr groß. Richtig, auch bei mir! Die größte Leistung ist eigentlich, daß es Nina geschafft hat, mir das Benguiat-g schmackhaft zu machen … Den Weg geebnet hat allerdings der sehr harmonische Rest, der meiner Begeisterung für Serifenbetonte mit Tropfenserifen (Bodoni Egyptian!) neue Nahrung gab. Nina hat extrem detailverliebt gearbeitet, der Verlockung zu vieler Tropfen widerstanden, der Schrift Kapitälchen und sogar die kleineren Petite Caps spendiert, sie hat gekernt, bis die Police kam und mit Hrant Papazian wunderbare armenische Zeichen integriert. Und am wichtigsten: Man sieht ihrem »Ernestinchen« nicht an, welcher Musik sie ausgesetzt war!

Salvo Sans & Salvo Serif · Cyrus Highsmith (FontBureau)

Immer wenn man denkt, dem Thema Serifenlose gäbe es nichts mehr hinzuzufügen, kommt Cyrus Highsmith und verzückt einen doch wieder mit seiner Handschrift. Ähnlich wie mit Stainless oder Dispatch ist es ihm wieder gelungen, eine riesig ausgebaute Schriftsippe zu gestalten, für die man als Klassifikation nur »Highsmith« angeben könnte: Warm, freundlich, eindeutig amerikanisch und mit großem Wiedererkennungswert. Der Design Director der Zeitschrift, für die Salvo ursprünglich gestaltet wurde, hat es so umschrieben: Auch wenn es normalerweise die richtigen Worte sind, die die Menschen anlocken, ist es hier die Schrift, die dies auf einer unterbewußten Ebene erledigt. Und was kann man von einer Schrift (die alle anderen Qualitäten ohnehin mitbringt) mehr verlangen?

Neue Haas Grotesk · Max Miedinger / Christian Schwartz (Linotype)

Was ist besser als Helvetica? Helvetica! Beim Redesign des Guardian 2004 hatte Christian Schwartz die Idee, Helvetica endlich so zu digitalisieren, wie sie aussah, als Max Miedinger sie als »Neue Haas Grotesk« 1957–1961 entwarf und die Typografie prägte wie kaum eine andere Schrift. Jahrelang nur »auf Anfrage« auf Schwartz’ Website erhältlich, ist sie nun endlich für jedermann zu haben.

FS Pimlico · Fernando Mello (Fontsmith)

Ich habe mich schon oft gefragt, warum es so wenig freundliche, abgerundete Schriften gibt. Wenn ich etwas in der Richtung suche, falle ich immer wieder auf Cronos oder FF Strada zurück. Und jetzt Pimlico! Ich weiß nicht, ob es daran liegt, daß Fernando Mello mit der »Black« angefangen oder ob mich seine Herleitung über den 70er-Jahre-Funk unterschwellig angesprochen hat. Ich weiß nur, daß mich diese Schrift auf verschiedene Arten fasziniert. Fett mit Swashes eindeutig auf Retro-Kurs und in den Textgraden so weich und seriös, daß ich den Jahresbericht eines Windelherstellers damit gestalten möchte … Aber machen wir uns nichts vor, das Ausschlaggebende ist der Glow-Schnitt – wer kann da noch widerstehen!

Aisha · Titus Nemeth (Rosetta)

Aisha ist eine der wenigen Schriften, bei denen das Arabische vor dem Lateinischen entwickelt wurde, und doch hat ihr Designer Titus Nemeth ihr auch einiges aus dem Okzident mitgegeben. Dementsprechend bringt sie aus beiden Kulturen das beste mit und fühlt sich sowohl in Marrakesch als auch in Paris zuhause. Ihr freundlicher Charakter kommt überall unverfälscht rüber und läßt sie auch abseits interkulturellen Kontextes bestehen, was sowohl TDC als auch Creative Review bereits honorierten.

Rabenau · Axel Bertram / Andreas Frohloff (Linotype)

Gut Ding will Weile haben! Wer sich bei Erscheinen von Axel Bertrams wohltemperierten Alphabet in die dort verwendete Type verliebt hatte, musste sich noch einige Jahre gedulden, ehe er sie selbst kaufen konnte. Sie hatte es aber auch nicht leicht: Zwei Perfektionisten (Axel Bertram und Andreas Frohloff) feilten über Jahre an ihren Kurven, bis sie Anfang des Jahres zunächst als »Lucinde« erschien und aufgrund der Nähe zu »Lucida« in »Rabenau« umgetauft wurde. Gottseidank änderte sich nur der Name: Die umfangreiche Antiqua bleibt getreu ihres ursprünglichen Namens selbstbewußt und feminin im Geiste der Aufklärung.

Special Guest: Photo-Lettering · Diverse (House Industries)

Was tun mit all den alten Photo-Lettering-Fotosatzschriften, die nur für Logos oder Überschriften taugen und als Einzelfonts wahrscheinlich nicht sonderlich erfolgreich wären? Ganz einfach: Man läßt sie von einigen der begabtesten Schriftgestaltern digitalisieren und entwickelt ein geniales Geschäftsmodell: Statt einen Font zu kaufen, setzt man online Logo oder Headline und kann diese für wenig Geld als Vektordatei downloaden.

Honorable Mentions

Es gab wirklich viele tolle Schriften dieses Jahr! Und da meine Bestenliste getreu der alten Fußball-Weisheit nicht die elf Besten repräsentiert, sondern die beste Elf, gibt es hier der Vollständigkeit halber noch einige weitere Schriften, die genauso spannend sind:

Mehr Listen

Da meine Liste so subjektiv ist, hier auch noch die anderen Best-of-Listen:

Ein großes Dankeschön

… wie immer allen Designern und Foundrys für das freundliche Zurverfügungstellen der Fonts! In allen Fällen hatte ich es mit sehr netten und hilfsbereiten Ansprechpartnern zu tun, die mir schnell und unkompliziert aushalfen und diese Liste samt Beispielen ermöglichten.

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