Das große Eszett
von Christoph KoeberlinDer Rat für Rechtschreibung hat am 29.6.2017 die Großbuchstabenvariante des ß (»Versaleszett«) zugelassen, womit das bei deutschen Typografen wohl umstrittenste Zeichen nun in der offiziellen deutschen Rechtschreibung angekommen ist. Seit Jahren schon herrscht ein erbitterter verbaler Disput zwischen zwei typografischen Lagern: Eine Seite kämpft seit Jahren dafür, dieses Zeichen groß (sic!) rauszubringen, die andere verteufelt es als bestenfalls unnötig und unästhetisch.
Typefacts möchte nachfolgend die wesentlichen Informationen zum Thema sachlich zusammenzufassen – sowohl für Anwender als auch Designer des Zeichens.
Darum geht’s
Im Deutschen gibt es das Zeichen »ß« (scharfes s, Eszett, Rucksack-s …) – doch was es eigentlich ist und wie damit umzugehen ist, darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen:
- Ligatur (Zusammensetzung) aus »ſ« und »s« (oder »ſ« und »z«/»ʒ«):
Da es keine Großbuchstabenvariante des langen s (ſ) gibt, folgte daraus:
Maße → MASSE
(= MASSE/Masse)
Dies kann – speziell bei Eigennamen – missverständlich sein. - Eigenständiges Zeichen »ß«:
Ein eigenständiges Zeichen kann (und muss?) es als Klein- und Großbuchstabenform geben. Daraus folgt:
Maße → MAẞE
(≠ MASSE/Masse)
Eigennamen bleiben somit auch in Versalien – wie im Personalausweis – eindeutig.
Die dringlichsten Fragen
Muss ich es verwenden?
Nein, aber Du darfst es jetzt offiziell.
Muss es meine Schrift enthalten?
Nein, dein Font unterstützt auch ohne Versaleszett die deutsche Sprache (wenn äöüßÄÖÜ enthalten sind).
Gestaltung
Das größte Problem ist wohl das Design des Zeichens: Wie kann eine Großbuchstabenvariante von etwas aussehen, das es eigentlich nur als Kleinbuchstabe(n) gibt?
Grundsätzlich sind viele Formen denkbar, doch in den letzten Jahren haben sich die nachfolgenden Ausprägungen herauskristallisiert – so mancher Typedesigner hofft aber immer noch auf eine überzeugendere Lösung (s. Kontroverse ☟).
Mit Bedacht vorgehen sollte man in jedem Falle; Selbst für Muttersprachler wirkt ein Versaleszett häufig ungewohnt, zudem spottet die Gestaltung – vor allem auch in den Systemschriften – zum Teil jeder Beschreibung:
Verwechslungsgefahr
Das Eszett wird gern mit dem griechischen Buchstaben beta verwechselt oder auch – besonders im Versalsatz – mit dem B.
Das große Eszett wird in seinen gängigen Formen gern mit dem B verwechselt.
Wie kann ich das Zeichen eingeben?
Auf der Tastatur sucht man das Versaleszett vergeblich, es bleiben letztendlich nur die üblichen steinigen Wege zum Einfügen eines unzugänglichen Zeichens:
Copy / Paste
Am einfachsten:
ẞ kopieren und einfügen
Linux
Compose + S + S (nacheinander) oder
Umschalt + Alt Gr + S (gleichzeitig).
macOS
Mit ctrl + cmd + Leertaste den Dialog »Emoji und Symbole« einblenden, dann nach dem Unicode 1E9E
suchen (und ihn fürs nächste Mal in den Favoriten speichern)
Oder man lädt und nutzt unseren Alfred Workflow.
iOS
Apple hat das Zeichen mit iOS 15 ins System integriert. Langes Drücken auf S (im Versalmodus der Tastatur) öffnet das Kontextmenü. Hier kann man den Buchstaben auswählen.
MS Windows
Der Windows-Version entsprechend, muss man jeweils andere Tastenkombination tätigen.
Alt Gr + H
Alt Gr + Umschalt + ß
linkes Alt + 7 8 3 8 (Ziffernblock)
MS Word
Eingabe des Unicodes, anschließend alt- und c-Taste drücken
1 E 9 E + Alt + C
Welche Fonts enthalten das Zeichen?
In den letzten Jahren ist eine große Anzahl von Schriften mit Versal-Eszett entstanden. Einige vorzügliche Foundrys haben das Zeichen in ihren Standardzeichensatz übernommen, z.B.:
Auch bei MyFonts lassen sich gezielt Schriften suchen, die das Versal-Eszett enthalten. Aber Vorsicht: Hier variiert die Qualität sowohl von Schrift als auch Zeichen stark, zudem ist in den Fonts z.T. nur der Codepoint mit »SS« oder Platzhaltern belegt.
Kontroverse
Neben der Gretchenfrage, ob es eine Großbuchstabenvariante des ß überhaupt geben kann, erhitzen sich die Gemüter besonders an der Frage, ob das Zeichen die deutsche Orthographie nun vereinfacht oder verkompliziert. Die Schweiz wählte den umgekehrten Weg und schaffte das scharfe s komplett ab. Dort wird nun konsequent »ss« verwendet, was viele als bessere Lösung sehen, die auch international verständlicher wäre. Das Design des Zeichens ist ein weiterer Stein des Anstoßes, da es viele Typografen als nicht überzeugend empfinden (und (link: https://twitter.com/Hirnrunzeln/status/881133500174348289 text: nicht nur diese→. Ralf Herrmann, der die Einführung des neuen Zeichens seit Jahren forciert, bemüht sich auf seinen Seiten, die Kritikpunkte zu entkräften.
Und doch bleibt es ein sensibles Thema – nicht zuletzt deshalb, weil die Deutschen ihre ganz eigene Geschichte mit der Buchstabenkombination »SS« haben, wie auch Indra Kupferschmid zu bedenken gibt.
Für Schriftgestalter und -hersteller
Nach wie vor ist es üblich, aus einem ß im Versalsatz »SS« zu machen, und die meisten Programme tun dies automatisch. Was passiert aber mit Kapitälchen? Und wie sollte der OpenType-Featurecode aussehen?
feature smcp{
sub germandbls by germandbls.smcp;
} smcp;
Ist ein Versaleszett im Font enthalten, sollte auch eine Kapitälchenvariante gezeichnet werden, die dann über c2sc
aktiviert wird:
feature c2sc{
sub uni1E9E by uni1E9E.c2sc;
} c2sc;
So sollten die Glyphen im Font aussehen:
Zusätzlich sollte noch ein Duplikat von uni1E9E.c2sc
angelegt werden (z.B.) mit dem Namen germandbls.smcp.ss01
, so dass Anwender per Stylistic Set die Versaleszettform auch im gemischten Kapitälchensatz anschalten können:
feature ss01{
sub germandbls.smcp by germandbls.smcp.ss01;
} ss01;
Manche Designer möchten der Verwendung des »kleinen« ß im Versalsatz vorbeugen und tauschen es automatisch gegen das Versaleszett aus, z.B.:
feature calt{
sub @uppercaseLetters germandbls' @uppercaseLetters by uni1E9E;
} calt;
Kerning
Der »Kerningbedarf« des Zeichens ist recht übersichtlich. Da das Zeichen nicht am Wortanfang vorkommt, sondern nur im Versalsatz, muss es linksseitig nur mit anderen Großbuchstaben gekernt werden, wobei potentiell schwierige Kombinationen wie Tẞ, Vẞ, Wẞ gar nicht vorkommen können.
Ein Augenmerk haben sollte man eher auf die Kombinationen:
FUẞBALL
GROẞASPACH
REIẞVERSCHLUSS
GROẞYACHT
WEIẞWURST
STOẞTRUPP
…
und mögliche Interpunktion am Wortende:
ẞ“ ẞ« ẞ’ ẞ? …
Verwendete Schriften
Titelbild:
Harrison Serif (Jakob Runge & Lisa Fischbach, TypeMates)
Kapitälchen:
Mallory (Tobias Frere-Jones, Frere-Jones Type)